190220 – Ein Jahr nach Hanau

Am 19.02.2020 ermordet ein rechtsradikaler Täter aus rassistischen Motiven Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtović, Vili Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu, Ferhat Unvar und Kaloyan Velkov in Hanau.
Danach ging er nach Hause und erschoss dort seine Mutter und danach sich selbst…

Es gibt Daten, da erinnert man sich noch nach Jahren, wo man war. Der 19.02.2020 ist ein solches Datum für mich.
Ich weiß noch, dass ich abends mit meinem Laptop auf den Knien bei meiner Mutter auf dem Sofa saß, im Internet Zeit verplemperte und mit einem Ohr bei ‚Mainz bleibt Mainz…‘, das sich meine Mutter gerade anschaute, zuhörte.
Und dann kam die Nachricht (bei Twitter?), dass in Hanau geschossen wurde. Eine Stadt, die ungefährt 20 Kilometer von meinem Wohnort entfernt liegt und deren Namen ich seit ich denken kann kenne.

Hanau, das war bis dahin die Gebrüder-Grimm-Stadt, das Ausflugsziel Alte Fasanerie, Geburtsort von Rudi Völler, wichtiger Stützpunkt der US-Streitkräfte, Schauplatz von Erinnerungen meines Vaters an das nahende Ende des 2. Weltkriegs und der damit verbundenen Bombardierungen, Heimat des nächst gelegenen Ikeas und Wohnort einer lieben Freundin…
Nicht weit weg, nein ganz nah.

Es folgte fassungsloses Starren auf den Fernseher und das unbewußte Wissen, dass mir da gerade eine Sicherheit verloren gegangen ist, die nie wieder zurückkommt. Der Gedanke, dass ’sowas‘ bei uns nicht passieren kann, plötzlich wert- und trostlos.

Einen Tag danach schrieb ich hier:

„…Ich bin traurig, ratlos.
Und mir geht gerade langsam wirklich der Glaube an die Menschheit, an Toleranz, Vernunft und Miteinander verloren.
Wo wird uns das alles noch hinführen…“

Vier Jahre später ist dieser Glaube leider nicht wiedergekommen, eher im Gegenteil.

Vielleicht auch, weil ich (aus meiner privilegierten Position heraus) verfolge, wie es nach dem Anschlag mit den Familien der Opfer weiterging und wie unser Staat weiterhin hilf- und gefühlt auch eher kampflos versagt, wenn es um die Aufarbeitung geht.

Seitdem ich letztes Jahr Podcasts für mich entdeckt habe, war es eigentlich nur eine Frage der Zeit bis ich mir auch ‚190220 – Ein Jahr nach Hanau‘ anhören würde.

In diesem Podcast setzten sich die beiden Journalistinen Sham Jaff und Alena Jabarine damit auseinander, wie es so weit kommen konnte, rekonstruieren den Terroranschlag, sprechen mit Angehörigen der Opfer und Anwohnern von Hanau, begleiten den Untersuchungsausschuss im hessischen Landtag und, vielleicht am wichtigsten, stellen die Opfer vor und geben ihnen ein Gesicht.

Mittlerweile gibt es sechs reguläre und vier Sonderfolgen, die ich alle gehört habe.
Und zwar völlig ungeplant an nur zwei Tagen, weil ich einfach nicht aufhören konnte.
Weil das alles so unfassbar ist.
Die sinnlos zerstörten Leben der Opfer, die alle noch so viel vor hatten. Das Leid der Angehörigen, das wohl niemand wirklich ermessen kann und das sicher auch nie ganz verschwinden wird.
Aber auch die Wut und die Stärke der Angehörigen, die nach wie vor dafür kämpfen, dass es Aufklärung über das Geschehene, aber auch über die Versäumnisse der Polizei und das Versagen von Staat und Politik, gibt.

Dabei gelingt es den Beiden für mich recht gut, das Geschehen aufzudröseln und zu erklären.
Am meisten hat mich wohl aber beeindruckt, dass es Jaff und Jabarine gelingt, nicht dem Täter den meisten Raum zu geben, wie das leider so oft passiert. Stattdessen haben sie den Hashtag #SayTheirNames verinnerlicht und beschäftigen sich mit dem Täter (und seinem Vater) nur so viel, wie es sein muss.

Ich war beim Hören traurig (es sind definitiv auch Tränen geflossen), aber vor allem auch wütend.

Wie kann es sein, dass die Technik eines Polizeinotrufs so veraltet ist, dass man darüber niemanden erreicht!
Wie kann es sein, dass mit den Familien der Opfern so dermassen empathielos umgegangen wird!
Wie kann es sein, dass der zuständige Landesminister sich hinterher hinstellt und von guter Polizeiarbeit spricht!
Wie kann es sein, dass der Vater des Täters mehr oder weniger unbehelligt Opferfamilien und Anwohner*innen belästigt!
Wie kann es sein, dass wir lieber immer noch Staatsversagen lieber unter den Teppich kehren, als den Mist dann wenigstens hinterher aufzuarbeiten!
Wie kann es sein, dass wir als Gesellschaft gefühlt ständig darüber nachdenken, wie wir die *Achtung Ironie‘ armen, vergessenen Wutbürger *Ironie off* in die Gesellschaftsmitte zurückholen und es uns dann aber wiederum vollkommen egal ist, wenn wir ganze Generationen von jungen Deutschen verlieren, weil sie das Gefühl vermittelt bekommen, nicht nach Deutschland zu gehören.

Ich kann Euch gar nicht sagen, wie depressiv mich das alles macht und traurig und auch ein Stück weit verzweifelt.

‚190220 – Ein Jahr nach Hanau‘ ist definitiv kein einfacher Podcast, den man so eben mal anhören kann…zumindest, wenn man ein halbwegs empathisches Wesen ist. Aber er ist wichtig!
Einfach weil er das Scheinwerferlicht auf einen schrecklichen Terroranschlag in Deutschland richtet, das Geschehen aufdröselt.
Weil er den Opfern eine Stimme, ein Gesicht gibt.
Aber auch, weil er zumindest mir zeigt, dass wir uns als Gesellschaft ändern müssen. Und jede*r Einzelne von uns. Die alten Denkmuster zum Thema was/wer deutsch ist, müssen weg. Die ‚wir gegen die‘-Denkschule muss weg. Die halbherzige Aufarbeitung beziehungsweise die mehr als bescheidene Fehlerkultur im öffentlichen Dienst und/oder in der Politik muss weg.

Daher mein Appell: hört euch diesen Podcast an, lernt was daraus und #SayTheirNames!!!

‚190220 – Ein Jahr nach Hanau‘ bei Spotify. Wer Spotify nicht nutzt, kann den Podcast zum Beispiel hier bei Podtail hören.

Im März 2020 wurde die Initiative 19. Februar Hanau gegründet. Hier könnt ihr nachlesen, worum es dabei geht und auf der Website kann man auch herausfinden, wie man Unterstützung leisten kann, wenn man das möchte.

‚Drei Jahre nach Hanau – Kampf dem rassistischen Terror‘
Eine für mich sehenswerte Podiumsdiskussion mit:
– Marius Weiß (SPD), Vorsitzender des Hanau-Untersuchungsausschusses des Hessischen Landtags,
– Vanessa Gronemann, Grünen-Obfrau im hessischen Hanau-Untersuchungsausschuss,
– Ajla Kurtović, Schwester des ermordeten Hamza Kurtović,
– Newroz Duman, Initiative 19. Februar Hanau.
Moderation: Pitt von Bebenburg und Hanning Voigts, Frankfurter Rundschau.

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3 Antworten zu 190220 – Ein Jahr nach Hanau

  1. Vom „Bundesgrüß“ bis zum zuständigen Innenminister – geschehen solch furchtbare Anschläge, ergeht man sich stets in den gleichen Betroffenheitsfloskeln, und macht dann hinterher weiter wie gewohnt. Auch das Märchen vom „Einzeltäter“ wird nach wie vor gehätschelt und gepflegt, als wäre es eine heilige Kuh, als könne und dürfe es nicht sein, dass die Bestien, die Menschen aus verbohrten ideologischen und rassistischen Gründen ihre Leben rauben, von Anderen im persönlichen Leben bzw. dem Internet radikalisiert und aufgestachelt worden sind. Es gibt keine Einzeltäter. Beschämend auch, wie unsere Ermittlungsbehörden seinerzeit in den Fällen der NSU gehandelt und lange Zeit Familienmitglieder verdächtigt, beschuldigt und völlig unnötig gequält hatten, bevor sie sich (eher widerwillig) auf die Suche nach den wahren Tätern begaben.

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  2. Herba schreibt:

    @Martha: Ich denke im Fall von Hanau ist evtl gar nicht wirklich weiter ermittelt worden, weil man den Täter ja kannte und wußte, dass es durch den Selbstmord keinen Prozess geben würde.
    Hier wäre eher wichtig, aufzuarbeiten, was alles schief gelaufen ist und das passiert halt leider nicht. Aber ja auch beim NSU wurde scheinbar viel unter den Teppich gekehrt und die Hinterbliebenen wurden einfach schändlich behandelt. Auch hier kämpfen ja Angehörige für eine gewisse Form von Gerechtigkeit, die sie wahrscheinlich nie bekommen werden 😦

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  3. Pingback: Medienjournal: Media Monday #665 | Unkraut vergeht nicht….oder doch?

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