Am 9. September 2000 wird Enver Simsek an seinem Blumenverkaufsstand erschossen und das Leben seiner damals vierzehnjährigen Tochter verändert sich für immer.
Die Polizei sieht das Motiv für die Tat im beruflichen und/oder familiären Umfeld von Enver Simsek.
Es kann sich nur um Drogenschmuggel oder familiäre Streitigkeiten gehandelt haben. Semiyas Mutter und ihre beiden Onkel werden immer wieder verhört, obwohl es keinerlei Indizien für die eingeschlagene Ermittlungsrichtung gibt.
Erst elf Jahre, acht weitere Morde und unzählige Ermittlungspannen später, erfährt die Familie Simsek, dass Enver das erste Opfer des NSU wurde…
Die neun Morde, die der NSU verübt hat, haben mich schwer erschüttert. Diesen Hass, diesen Rassismus, diese Denkmuster, die die drei Täter zu ihren Taten trieb, kann und will ich einfach nicht nachvollziehen.
Aber nicht nur die Morde an sich sind erschütternd, sondern auch der strukturelle Rassismus, mit dem die Familien der Opfer es nach den Taten zu tun bekamen, ist einfach unfassbar für mich.
Und nach einem der vielen Nachrichtenberichte über den Prozess gegen die verbliebene Täterin, wollte ich mehr über die Gründe wissen und bin damals in ein Kaninchenloch aus Berichten im Netz gefallen.
Chronologien der Taten, Auflistungen der Ermittlungspannen, Hintergründe zu den Opfern Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç, Mehmet Turgut, İsmail Yaşar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubaşık und Halit Yozgat.
Und schließlich die Dokudrama-Trilogie ‚Mitten in Deutschland: NSU‚, die mittlerweile leider nicht mehr in der Mediathek zu finden ist.
Ein Teil der Filmreihe fokusiert sich auf die Täter, ein weiterer Teil auf die Ermittler und der dritte Teil fokusiert sich auf die Opfer, speziell Enver Simsek, da dieser Teil auf dem Buch ‚Schmerzliche Heimat‘ von Semiya Simsek basiert, die im Übrigen vom Ergebnis überzeugt ist.
Schon da war mir klar, dass ich auch das Buch lesen wollte, brauchte aber erstmal eine Pause vom Thema – ein Luxus, den ich mir als Aussenstehende nehmen kann und den die Opferfamilien nicht haben.
Aber Anfang des Jahres war es so weit und ich bin in die Geschichte der Familie Simsek abgetaucht. Semiya ist jünger als ich, aber auch gebürtige Hessin und ihre Wohnorte Schlüchtern und Friedberg sind mir, zumindest dem Namen nach, vertraut.
Sie ist recht behütet aufgewachsen und liebte ihre Familie, aber vor allem ihren Vater sehr.
Mitten in der Pubertät war dann nicht immer alles einfach, sie reibt sich an den Eltern und geht auf ein Internat in Aschaffenburg, doch insgesamt ist die Welt des Mädchens in Ordnung und auf die Idee, dass jemand finden könnte, dass sie keine Deutsche ist, kommt sie – zu Recht!!! – nicht.
Nach dem Mord an ihrem Vater stellt sie infrage, wo sie hingehört und lebt mittlerweile mit Mann und Kindern in der Türkei.
Semiya Simsek schildert ihre Kindheit, den Mord an ihrem Vater und den anderen acht Opfern und die Ermittlungen.
Zwischendurch gibt es Kapitel des Journalisten Peter Schwarz, der Hintergrundinformationen liefert und Dinge weiter einordnet.
Diese Kapitel waren hilfreich und interessant, aber besser gefallen hat mir Semiyas Stimme. Aus fast jeder zeile heraus kann man als Leser ihren Schmerz und ihre Entwurzelung spüren, gleichzeitig ist das Buch aber auch eine Liebeserklärung an ihren Vater und den Rest der Familie.
Mich hat ‚Schmerzliche Heimat‘ unglaublich traurig, aber auch unglaublich wütend zurückgelassen. Und auch ein wenig resigniert, denn mittlerweile glaube ich nicht mehr daran, dass wir als Gesellschaft Rassismus hinter uns lassen werden, egal ob es nun um Alltagsrassismus, systemischen, institutionellen oder gewalttätigen Rassismus handelt. Ich halte das Buch für informativ und wichtig und bin froh, es gelesen zu haben.
Semiya Simsek und allen Angehörigen und Freunden der neun Opfer wünsche ich, dass sie Frieden finden können und der einzig verurteilten Täterin, dass sie im Gefängnis verrottet!
Semiya Simsek bei Rowohlt
Ein Interview vom 29.10.2021 mit Semiya Simsek
Ein weiteres Interview mit Semiya Simsek, vor allem in Bezug auf die Verfilmung „Die Opfer – Vergesst mich nicht“
‚Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater‘ bei Amazon.de (Affiliate-Link)
‚Mitten in Deutschland: NSU‘ als Stream bei Prime Video (Affiliate-Link)
Das ist eine Unverschämtheit sondergleichen, wie man damals seitens der Behörden mit den Angehörigen der NSU-Mordserie umgegangen ist! Und der ewig sich hinziehende Prozess wirft ja auch bis heute noch viele ungeklärte Fragen auf.
Rassismus und Fremdenfeindlichkeit wuchern in unserem Lande mittlerweile Besorgnis erregend. Und daran sind nicht nur die Blaunen schuld.
Das Buch kommt in jedem Fall auf meine Muss-Lesen-Liste. Hab Dank für’s Vorstellen.
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Nicht nur die Behörden, auch die Presse hat sich seinerzeit nicht mit Ruhm bekleckert, als sie für die Verbrechen reihenweise die Bezeichnung „Döner-Morde“ einführte, die tiefere Einblicke in das Mindset damaliger Journalisten gewährte, als ich sie haben wollte – selbst wenn der Begriff aus Polizeiakten stammt.
Wenn wir daran interessiert sind, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit langfristig zu verbannen – und ich gehe davon aus, dass die überwältigende Mehrheit dafür wäre – dann bräuchte es neben der Erkenntnis bzw. der Bereitschaft in der Bevölkerung zur Erkenntnis, was genau Rassismus ist und sein kann, auch eine umfassende Bildungsoffensive sowie das Bestreben des Staates, seine Bewohner in Lebensverhältnisse zu bringen, die es unnötig machen, Schuldige für diese Lebensverhältnisse zu suchen.
Ich habs komplizierter formuliert, als ich wollte …
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Du hast das sehr gut formuliert. Danke! Und ich bin da voll und ganz deiner Meinung. Vor allem was die Bildungsoffensive und die Lebensverhältnisse anbelangt.
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[sprachlos]
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@Martha: Leider glauben die Angehörigen nicht mehr wirklich an umfassende Aufklärung 😦 Ich leider auch nicht…
Sehr gerne!
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@Fraggle: Ja, das ist allerdings wahr. Ich glaube, da hat sich niemand, der irgendwie beteiligt war, mit RUhm bekleckert 😦
Da kann ich nur sagen: Amen!
Aber die meisten Menschen sind leider viel zu bequem und sobald es an die eigene Wohlfühlzone geht, kneifen viele und kommen mit ‚Das war aber doch immer schon so‘. Ich sage nur ‚Zigeunersoße‘ und dergleichen 😦
Finde ich gar nicht, Du hast es sehr treffend formuliert.
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