44 Tage – Und Deutschland wird nie mehr sein, wie es war von Stephan R. Meier [Werbung]

Deutschland, 5. September 1977:
Der Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer wird auf offener Straße von der RAF entführt, sein Chauffeur und die drei Personenschützer, die ihn begleiten, werden erschossen.
Im Austausch gegen Schleyer fordern die Terroristen unter anderem die Freilassung der in Stammheim inhaftierten Führungsspitze der RAF: Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Jan-Carl Raspe und Irmgard Möller.
Roland Manthey, Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz und somit Chef des deutschen Geheimdiensts arbeitet eng mit dem vom Bundeskanzler Schmidt einberufenen Krisenstab zusammen, um Schleyer vor Ablauf des Ultimatums zu finden und zu befreien. Denn der Staat läßt sich nicht von Terroristen erpressen…

Roland Manthey hat es nie gegeben. Die fiktive Figur wurde allerdings von Richard Meier, dem tatäschlichen Präsidenten zur damaligen Zeit inspiriert, denn Stephan R. Meier, der Autor von ’44 Tage‘, ist Richard Meiers Sohn.
Er hat sich nach eigener Aussage für die Aufarbeitung dieser Geschichte in Romanform entschieden, weil er Vorgänge beschreibt, die der höchsten Geheimhaltungsstufe unterliegen und daher nur als fiktive Vorgänge beschrieben werden können.
Nach eigener Aussage hat er viel von seinem Vater erfahren, aber auch ausgiebig recherchiert und da, wo es um Gespräche ging, eben Dialoge erfunden, wie sie stattgefunden haben könnten.
Außerdem ist er ja selbst Zeitzeuge (1977 war er 19 Jahre alt), war als Sohn seines Vaters zusammen mit den Geschwistern und seiner Mutter potentielles Entführungsziel der RAF und stand daher unter strengem Personenschutz.
In ’44 Tage‘ schildert er vor allem die Vorgänge hinter den politischen Kulissen und vermittelt dabei meiner Meinung nach ein gutes Bild des Drucks, unter dem die Beteiligten gestanden haben müssen.
Viele der handelnden Personen waren Schleyer zumindest schon einmal begegnet, manche kannten ihn näher.
Allen war klar, dass die Terroristen ihn ermorden würden, wenn die Forderungen nicht erfüllt werden würden, daher versuchte man fieberhaft ihn zu finden.
Andererseits wird beim Lesen des Romans aber auch klar, dass Nachgeben keine wirkliche Option war. Denn damit hätte die Regierung vermutlich weitere Entführungen oder zumindest ähnliche Aktionen der RAF begünstigt und das konnte sich Deutschland keinesfalls leisten.
Diesen (wenn auch nur fiktiven) Blick hinter die Kulissen fand ich wirklich spannend. Vor allem, weil ich glaube, dass man als Nicht-Politiker viel zu leicht vergisst oder es erst gar nicht weiß, wie schwierig so manches ist, was Politiker tun müssen.
Natürlich kann man argumentieren, dass sie sich den Job ja ausgesucht haben und schließlich auch nicht schlecht bezahlt werden, aber entschädigt ein üppiges Gehalt wirklich dafür zum Beispiel einen Mann bewußt dem Tod zu überantworten?
Ich weiß es nicht und bin froh, dass ich mich frühzeitig dagegen entschieden habe, politisch tätig zu werden.
Spannend fand ich bei den Beschreibungen dieser Beratungen übrigens auch die verschiedenen Typen, die hier am Zug waren und die Erklärungen so mancher Hintergründe, die mir so nicht bewußt waren, auch wenn ich mich durchaus schon mit der RAF und ihren Terrorakten beschäftigt habe.
Die Perspektive des Romans bleibt aber nicht dauerhaft auf der politischen/staatsmännischen Ebene, sondern begleitet auch einen Streifenpolizist in Erftstadt-Liblar, der bei Ermittlungen ein Hochhaus als mögliches Versteck Schleyers identifiziert.
Außerdem erhält man in weiteren Erzählperspektiven Einblicke in die (unerlaubte) Abhöraktion der Inhaftierten von Stammheim, bewegt sich mit einem niederen RAF-Anhänger, der Bilder und Videos des entführten Schleyers von Paris aus unter die Leute bringt und begleitet zwei RAF-Terroristen auf ihrer Reise in den Jemen, wo sie in Aden fast Teil der Entführung des Lufthansa-Flugzeugs ‚Landshut‘ werden.
Diese Perspektivwechsel sorgen für eine ausgewogene Erzählweise und natürlich auch für Spannung.
Obwohl ich wußte, die das Ganze ausgehen wird, habe ich doch mit dem Polizisten in Liblar mitgefiebert, den Terroristen in Paris und im Nahen Osten Entdeckung gewünscht und ich war gespannt, welche These der Autor zur Todesnacht von Stammheim einnehmen würde. Selbstmord oder Auftragsmord durch den Staat?
Um das herauszufinden, müßt ihr das Buch leider selber lesen, denn ich werde nicht spoilern.
Mit seinem Nachwort setzt der Autor dann noch ein bewegendes Ausrufezeichen hinter seinen Roman.
Er erklärt einiges, ordnet vieles auch noch einmal aus seiner Sicht ein und bricht vor allem auch eine Lanze für die Opfer und die Hinterbliebenen, die bis heute vergeblich darauf warten, dass die Terroristen, die noch da sind, zur Aufklärung der nicht geklärten RAF-Verbrechen beitragen.
Meier bricht aber auch eine Lanze für den Staat, der nicht anders konnte,, als hart zu bleiben, aber über den Ereignissen jenes Jahres, wie Meier sagt: ’seine Unschuld verlor‘.
Dazu gibt es neben einer Zeittafel der Geschehnisse von 1977 auch noch ausführliche Literaturhinweise zu weiterführender Literatur.
Meiner Meinung nach ist Stephan R. Meier ein absolut lesenswertes Buch gelungen, das spannende Hintergrundinformationen zu einem dunklen Stück Geschichte Deutschlands liefert und das man vermutlich auch versteht, wenn man nur wenig Hintergrundwissen zur RAF hat.
Mich hat ’44 Tage‘ jedenfalls sehr stark in diese Zeit hineingezogen, auch wenn ich kein Zeitzeuge bin (ich kann mich, was die RAF angeht bewußt nur an die Nachrichtenmeldung über die Ermordung von Herrhausen erinnern, bei dem die komplett zerstörte Limousine zu sehen war) und einmal mehr kann ich über den Deutschen Herbst und alles was damit zusammenhängt nur den Kopf schütteln.
Auf jeden Fall ist dieses Kapitel deutscher Geschichte eines, das nicht vergessen werden sollte.
Dabei hilft ’44 Tage‘ auf unterhaltsame Weise, sofern man hier wirklich von Unterhaltung sprechen kann und ich bin sehr froh, dass ich den Roman gelesen habe.
Was für ein Buch!

Bei Textland gibt es ein lesenswertes Interview mit dem Autor zum Buch und den Hintergründen.

Stephan R. Meier bei Penguin RandomHouse
’44 Tage – Und Deutschland wird nie mehr sein, wie es war‘ bei Amazon.de (Affiliate-Link)

Das Taschenbuch wurde mir vom RandomHouse-Bloggerportal als Belegexemplar zur Verfügung gestellt – vielen Dank dafür! Meine Meinung wurde dadurch nicht beeinflusst.
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8 Antworten zu 44 Tage – Und Deutschland wird nie mehr sein, wie es war von Stephan R. Meier [Werbung]

  1. Servetus schreibt:

    I’ve read a lot about that year, too. I came to Germany for the first time in 1994 and it couldn’t have seemed further away from that atmosphere. Every now and then in Göttingen I’d meet some Autonomen, but that was it.

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  2. Herba schreibt:

    @Servetus: It must have been really frightening. My mother still remembers the regular ‚Ringfahndung‘ on the A3, the fear and not knowing who might be next.
    The 1990’s and early 2000’s seemed so peaceful and happy, I am sure the atmosphere then was really different to ‚Deutscher Herbst‘.

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  3. nettebuecherkiste schreibt:

    Ich kann mich noch erinnern, dass früher in den Supermärkten überall RAF-Fahndungsplakate hingen – die waren für mich als Kind ein normaler Anblick. Später hat mein Schwager mir in Bad Homburg gezeigt, wo der Anschlag auf Herrhausen verübt wurde.

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  4. Servetus schreibt:

    That phase in Göttingen was among the happiest times of my life and it sure did seem peaceful and happy.

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  5. Herba schreibt:

    @Nettebücherkiste: Ich meine mich auch noch an die Plakate zu erinnern, aber ich bin nicht sicher, ob ich das nicht aus irgendwelchen Serien quasi übernommen habe.

    Der Mord an Herrhausen macht für mich, bei all dem, was die so getrieben haben, am wenigsten Sinn. Er hätte wirklich was verändern können, schließlich war er zum Beispiel ein Verfechter der Entschuldung der Dritten Welt

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  6. Herba schreibt:

    @Servetus: ❤

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  7. Pingback: 7 Tage in Entebbe | Unkraut vergeht nicht….oder doch?

  8. nettebuecherkiste schreibt:

    Ja, das stimmt!

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